Kollegiale Fallberatung

Ihr seht, Ihr seht, was ich nicht sehe.

Peer Group Learning oder Kollegiale Fallberatung

Eine „Peer Group“ oder kollegiale Lerngruppe besteht aus etwa 5 bis 7 Personen. Also, ein vertraulicher, kleiner Kreis. Eine etwa einstündige Beratungssession läuft wie folgt: Eine Person schildert eine herausfordernde Situation aus ihrem Beruf, für die sie sich Unterstützung oder Erfahrungsaustausch wünscht.

Das kann zum Beispiel ein Konflikt mit einem KollegIn sein oder eine Verzögerung in einem Projekt, ein Problem mit einem/r MitarbeiterIn oder vielleicht auch eine eskalierende Kundenbeschwerde.

Nach der Situations-Schilderung stellen die KollegInnen Verständnisfragen. Im nächsten Schritt besprechen sie den Fall und diskutieren Lösungen. Die Person, die den Fall eingebracht hat (=FallbringerIn) hört dabei nur aufmerksam zu.

Am Ende der Session reflektiert die/der FallbringerIn, was sie/er an nützlichen Erkenntnissen mitnimmt.

Weiterführender Artikel zur Methode der „Kollegialen Fallberatung“:

Zur besseren Lesbarkeit wird im folgenden Artikel nur die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind immer beide Geschlechter gemeint.

 

Was sind die Hintergründe der Kollegialen Fallberatung (KFB)?

Nur 10 % von dem, was wir wissen und können, lernen wir in klassischen Seminaren. Aber 90 % „on-the-job“ und von KollegInnen. Was liegt also näher, als praxisnahes, kollegiales Lernen anhand von realen Situationen zum bewusst einsetzbaren Lernformat zu machen!

Die KFB ist im Umfeld pädagogischer Berufe etwa 1970 in Deutschland entstanden. Vergleichbar damit sind auch sogenannte „Balint-Gruppen“. Heute besteht die KFB aus einem Methodenmix unterschiedlicher psychologischer und systemischer Ansätze. Ähnlich der KFB sind Beratungsmethoden wie Team Coaching, Supervision, Intervision.

Ein sehr gutes Grundlagen- und Praxisbuch ist: Kollegiale Beratung – Problemlösungen gemeinsam entwickeln, von Kim-Oliver Tietze, erschienen 2003 im rororo-Verlag.

 

Wodurch und worauf wirkt die KFB?

Die eigenen Erfahrungen und die daraus subjektiv resultierenden Interpretationen von neuen Situationen beeinflussen Gedanken und Handlungen von uns Menschen. Dadurch werden einerseits manche Aspekte zu sehr in den Vordergrund gerückt, andererseits manche sogar komplett ausgeblendet. (Vgl. Betriebsblindheit, Selektive Wahrnehmung, Self-fullfilling Prophecy, Stereotype etc.)

In der KFB fließen vielfältige Sichtweisen zusammen, wodurch es möglich wird, die eigenen Interpretationen zu hinterfragen und neue, zusätzliche Perspektiven zu entwickeln. Daraus können wertvolle neue Handlungsoptionen entstehen.

 

Wo kann die KFB eingesetzt werden?

KFB ist besonders wertvoll für Personen in Arbeitsbereichen, in denen die Kommunikation und Interaktion mit Kollegen, Mitarbeitern, Kunden oder Geschäftspartnern eine wichtige Rolle spielt.

Zum Beispiel: Führungskräfte, Unternehmensgründer, Nachwuchskräfte, Projektleiter, Mitarbeiter im Kundenkontakt, Experten, Sozialpädagogen, Therapeuten, Initiatoren von ökologisch-sozialen Impulsprojekten im kommunalen und regionalen Bereich.

KFB eignet sich branchenübergreifend für Situationen, für die eine Lösung gesucht wird, Ideen gesammelt werden sollen, aus denen etwas für die Zukunft gelernt werden soll, für die andere Meinungen gehört werden sollen, aber auch für die Bearbeitung von Entscheidungsdilemmata. 

Die KFB kommt gleichermaßen innerhalb von Unternehmen als auch in Netzwerken oder freien Austauschgruppen zum Einsatz.

In Organisationen kann sie sowohl als wertvoller Praxis- bzw. Transferteil eines Trainingsprogrammes eingesetzt werden (z.B. Führungskräfte-Training oder Projektmanagement), als auch als unabhängige interne Peer Group zum Beispiel für Young Leaders dauerhaft etabliert werden.

Läuft eine Peer Group ohne begleitendes Trainingsprogramm sollte die Anfangsphase von einer externen fachkundigen Person moderiert und geleitet werden. Mittelfristig kann eine solche Peer Group – sobald Moderations- und Beratungskompetenz aufgebaut worden sind – auch selbstorganisiert agieren.

In Netzwerken oder freien Austauschgruppen – wie zum Beispiel innerhalb von Frauen-, Jungunternehmer- oder Gründer-Netzwerken – liefert die Vielfalt der beruflichen Hintergründe der Teilnehmer noch einen ganz besonderen Mehrwert.

Stellen Sie sich vor, wie spannend es sein kann, wenn in einer solchen Gruppe Bio-Landwirte, Elektromobilitätsingenieure, Kunsthandwerker, Krankenpfleger und Insektenforscher zusammentreffen?!

 

Die KFB wirkt auf drei Ebenen:

  • INDIVIDUUM: Der Fallbringer erhält binnen kürzester Zeit praktische Tipps zur Umsetzung und entwickelt seine individuelle Kommunikations- und Führungskompetenz weiter.
  • GRUPPE: Jedes Gruppenmitglied erweitert seine Moderations-, Methoden-, Beratungs- und Führungskompetenz. Der Gruppenzusammenhalt wird gestärkt.
  • ORGANISATION: Eine lern- und innovationsfreudige, konstruktive Kooperationskultur wird gefördert.

 

Wann ist KFB nicht zu empfehlen?

  • Wenn die Teilnehmer innerhalb ein und derselben Gruppe die unmittelbar an einem gemeinsamen Konflikt beteiligten Personen sind. (Dann hilft Mediation o.ä.)
  • Wenn die Teilnehmer nicht freiwillig in der Gruppe sind.
  • Wenn hierarchische Beziehungen die Offenheit beeinträchtigen würden (Beispiel: Führungskraft und Mitarbeiter in der gleichen Gruppe).

 

Was sind Voraussetzungen für den Erfolg: 

  • Es braucht Verschwiegenheit nach außen UND Offenheit nach innen.
  • Die besondere Beratungshaltung ist das A & O: Keine direktiven Rat-Schläge erteilen, Ideen als unverbindliche Angebote sehen, Respekt für die subjektiv empfundene Realität des Fallbringers haben.
  • Bei allen Teilnehmern muss es den Wunsch nach Reflexion und persönlicher Weiterentwicklung geben. Reine "Zuhörer" sind nicht vorgesehen. Jeder muss irgendwann einen eigenen Fall einbringen.
  • Konsequenter Fokus auf das ICH-Erleben und Wirken des Fallbringers, d.h. auf den Bereich, der von ihm beeinflusst werden kann. Keine ausufernde Diskussion über nicht-beeinflussbare Rahmenbedingungen (kein „Jammerzirkel“).

Kopfstand-Brainstorming, Act-Storming und Schlüsselfragen

Weiterer Exkurs zur Methode:

Der Erfolgsfaktor, der die kollegiale Fallberatung zu einem hochwirksamen Lerninstrument macht, ist einerseits die systematische Gliederung der etwa einstündigen Beratungssession in 6 Phasen.

Andererseits der wohlüberlegte Einsatz verschiedener Beratungsmethoden – individuell passend zur Situation, die vom Fallbringer eingebracht wird:

 

Phase 1:   Die Rollen werden definiert. Siehe unten.

Phase 2:   Der Fallbringer schildert seine Situation. Die Kollegen stellen Verständnisfragen.

Phase 3:   Die Schlüsselfrage wird definiert.

Phase 4:  Die passende Beratungsmethode wird ausgewählt.

Phase 5:   Die Kollegen besprechen den Fall (Beratungsphase)

Phase 6:  Der Fallbringer reflektiert die gehörten Ideen.

 

Für jeden Fall und jede Beratungssession werden Rollen im Sinne von Aufgaben verteilt:

  • Der Moderator leitet und moderiert die Beratungssession.
  • Der Fallbringer schildert seine Situation.
  • Die kollegialen Berater besprechen den Fall.
  • Die Beobachter schauen auf den Prozess. (optional)
  • Eventuell eine Person, die die Lösungen dokumentiert. (optional)

 

Ein paar Beratungsmethoden kurz erklärt:

 

Je nachdem wie klar sich die vom Fallbringer geschilderte Situation darstellt, je nach formulierter Schlüsselfrage und je nachdem wie emotional betroffen der Fallbringer ist, wird eine dazu gut passende Beratungsmethode ausgewählt. Neben dem einfachen Brainstorming gibt es mehr als 20 verschiedene Vorgehensweisen zur Wahl.

Als Beispiel erläutere ich in der Folge eine Auswahl davon, die verdeutlicht, wie unterschiedlich der Beratungsbedarf je nach eingebrachter Situationen sein kann:

 

Ein erster kleiner Schritt: 

Wenn die Situation, die der Fallbringer schildert, sehr komplex und unübersichtlich wirkt, viel verschiedene Einflüsse bestehen, ein grundsätzlich großes, übergeordnetes Ziel bekannt, aber nicht klar ist, womit der Fallbringer anfangen soll.  >> Die kollegialen Berater können dann einfach nur überlegen, was erste konkrete, kleine Schritte sein könnten.

 

Das Team der inneren Stimmen:

Wenn der Fallbringer in seiner Situation hin- und hergerissen ist zwischen mehreren Zielen oder Prioritäten. Wenn ihm eine Entscheidung zwischen mehreren Handlungsoptionen schwer fällt und der Wunsch groß ist, endlich mit einer Entscheidung Klarheit zu schaffen. >> Die kollegialen Berater können dann Sprachrohr sein für diese inneren Stimmen. Sie können verschiedenen inneren Stimmen mit prägnanten Aussagen oder Wünschen Gehör verschaffen. Und schließlich können diese inneren Stimmen einen Dialog miteinander führen.

 

Hypothesen entwickeln:

Wenn der Fallbringer eine Situation schildert, die sehr unübersichtlich ist, wo die Vorgeschichte unklar ist, und der Grund, warum die Situation nach wie vor so aufrecht erhalten wird, nicht ersichtlich ist. >> Dann können die kollegialen Berater Vermutungen, also Hypothesen aussprechen, was sie glauben, was die Hintergründe sein könnten.

 

Sharing:

Wenn der Fallbringer sehr betroffen ist oder unter der Situation leidet und ihm ein peinliches Missgeschick passiert ist. >> Dann können die kollegialen Berater auch einfach nur Anteil an dem momentanen Befinden nehmen, indem sie selbst erzählen, an welche eigene Erfahrungen sie dadurch erinnert werden, welche ähnlichen Gefühle und Gedanken sie von sich selbst kennen.

 

Die Erfolgsverstärkung:

Es müssen nicht immer nur schwierige Situationen betrachtet werden. Wenn einem Fallbringer eine Aufgabe besonders gut gelungen ist, kann es sehr lernreich sein, wenn die kollegialen Berater dabei helfen, herauszufinden, über welche besonderen Fähigkeiten und Talente der Fallbringer verfügt und welche Rahmenbedingungen den Erfolg möglich gemacht haben. Dadurch lassen sich Erfolgsfaktoren für die Zukunft bewusst nutzen und verstärken. (vgl. dazu auch "Appreciative Inquiry")

Wie kann ich Sie bei der Durchführung einer KFB unterstützen:

Wenn Sie in Ihrem Unternehmen oder in einer Networking- oder Erfahrungsaustausch-Gruppe eine oder mehrere KFB-Gruppen etablieren möchten, berate ich Sie gerne für eine individuelle Vorgehensweise zur Initiierung, zum Aufbau und zur Durchführung.

Üblicherweise gibt es zu Beginn eine unverbindliche Infoveranstaltung, wo Interessierte die Methode kennenlernen können. Danach kommt es zur Gruppenbildung und in der Folge werden einige Durchläufe pro Gruppe von mir moderiert. Dabei bauen die Teilnehmer Moderations- und Beratungskompetenz auf. Schließlich ist es möglich, dass diese "Peer Groups" selbst die Sessions leiten.

Aus meiner Erfahrung mit zahlreichen Durchführungen von KFBs sowohl als Element in firmeninternen Trainingsprogrammen als auch in verschiedensten Netzwerken und sogar live auf Fachmessen, wo ich mehr als 400 solcher Sessions für BerufskollegInnen aus dem breiten Feld des Human Resources Managements moderiert habe, kann ich nur die Begeisterung weitergeben, die den Teilnehmern am Ende dieser intensiven Austauschrunden immer ins Gesicht geschrieben stand. Häufigstes Zitat:

Wow, so viele unglaublich wertvolle Sichtweisen und Lösungsansätze. Darauf wäre ich alleine nicht gekommen. Danke an alle, die dabei waren!

 

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